Einleitung

Liebe Eltern und Erziehungsberechtigte, wir freuen uns, dass Sie auf unser Angebot aufmerksam geworden sind. Das bedeutet, dass Sie zu den Erwachsenen gehören, die Kinder auf dem Weg zum Erwachsenwerden auch im Bereich der Sexualaufklärung gut und sicher begleiten möchten. Wir möchten Ihnen hierbei helfen. Denn: die wenigsten Erwachsenen haben gelernt, über Themen wie Körper, Liebe, Sexualität und Identität ganz natürlich zu sprechen. Jede Person hat somit ihren eigenen „Aufklärungsrucksack” - bei manchen gut gefüllt, bei anderen jedoch recht leer.

Wir möchten Ihnen helfen, die „einzelnen Fächer” Ihres Rucksacks zu füllen - damit Sie Ihren Kindern alle Fragen beantworten können, die sie im Laufe ihrer Kindheit und Jugend haben und Ihnen wahrscheinlich nur dann stellen, wenn sie merken, dass sie auch Antworten bekommen.

Sie sind als erwachsene Familienmitglieder die erste(n) Ansprechperson(en) für Ihre Kinder - auch wenn diese in Kindergärten und Schulen engagierte Menschen haben, die altersgemäße und sensible Aufklärung betreiben. Sie sind es, die bereits am Wickeltisch alle Körperteile benennen oder manche aussparen; die auf Fragen, die Sexualität betreffen, eventuell antworten „Dafür bist du noch viel zu klein.” oder „Interessante Frage, ich muss erst überlegen, wie ich sie dir beantworte.”

Je früher Sie beginnen, die Themen Körper, Liebe, Beziehung, Sexualität und Identität als normale Alltagsthemen anzusprechen, desto einfacher ist es für Sie - und auch Ihre Kinder. Je älter diese werden, desto peinlicher werden sogenannte „Aufklärungsgespräche”. Nicht selten atmen beide Seiten auf, nachdem diese vorbei sind. Förderlicher ist ein behutsames Begleiten der Kinder. Kinder, die gelernt haben, dass sie mit ihren Fragen zu Ihnen kommen können und ernstgemeinte sowie sachrichtige Antworten darauf erhalten, werden sich auch lange mit ihren Fragen an Sie richten.

Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Sie eventuell negative Einstellungen zur Sexualaufklärung (sei es durch die eigene Erziehung oder Medieneinflüsse) ernst nehmen. Wir möchten Ihnen die Möglichkeit bieten, sich damit auseinander zu setzen.

Die Sexualerziehung ist wichtiger Bestandteil der Missbrauchsprävention, weil sie Kindern Worte und Informationen zugänglich macht, mit denen sie sich im Falle von unangenehmen Situationen ausdrücken und mitteilen können. Sie brauchen keine Bedenken zu haben, Ihre Kinder durch eine altersadäquate, liebevolle Aufklärung zu überfordern, oder ihnen „die Unschuld” zu nehmen: Sie nehmen ihnen die Unwissenheit. Das ist ein bedeutender Unterschied.

Kinder sind von Beginn an sexuelle, weil geschlechtliche Wesen, nicht erst ab der Pubertät. Die kindliche Sexualität darf nicht mit der Erwachsenensexualität verglichen werden, sondern ist hauptsächlich von spielerischer, kindlicher Neugier geprägt. Beobachtbare Verhaltensweisen umfassen z.B. kindliches Erforschen des Körpers, Schau- und Zeigelust sowie das Stellen von Fragen. Kinder interessieren sich schon früh für Unterschiede zwischen den Geschlechtern und dafür, wie sie selbst entstanden sind.

Das sensible und altersgemäße Beantworten von Fragen „sexualisiert“ Kinder nicht. Es hilft ihnen eine Sprache zu finden. Damit stärkt Sexualpädagogik ihr Selbstbewusstsein und schützt sie vor Übergriffen, da sie sexuelle Handlungen schneller einordnen können.

Und Kinder, die scheinbar keine Fragen haben? Vielleicht wurden die Fragen „überhört” oder als „zu früh” eingestuft… Kinder haben sehr feine „Antennen” und wissen, zu wem sie mit ihren Fragen gehen können. Wird ihr Wissensdurst nicht von erwachsenen Bezugspersonen gestillt, finden sie schnell andere Wege (größere Geschwister, Medien…). Ein Aufklärungsbuch oder eine Webseite sind immer ein guter Einstieg ins Thema. Wichtig ist, dass Sie sich vorher Zeit nehmen und schauen, ob die Darstellungen, Bilder, Filme und auch die Sprache Ihnen angemessen erscheinen.

Kein erwachsener Mensch kommt drum herum, in irgendeiner Form Sexualaufklärung zu „machen”: Sie beginnt beim Nennen aller Körperteile am Wickeltisch. Wie und ob Sie später eine Frage beantworten, zeigt dem Kind Ihre Haltung und Werte. Das Sprechen über die Themen, die Sie hier finden, ist immer mit einer Wertehaltung verbunden, die Sie an Ihre Kinder weitergeben. Sich frühzeitig Gedanken über diese Werte zu machen, ist demnach sinnvoll.

Halten Sie kurz inne: Wie, wann, wo wurden Sie von wem „aufgeklärt”? Welche Themen kamen vor? Welche wurden (weshalb) ausgespart? Wie hätte es besser sein können? Hatten Sie die Aufklärung, die Sie Ihrem Kind wünschen? Nein? Dann gehören Sie zur absoluten Mehrheit. Die gute Nachricht: Sie können es besser machen! Und genau darin möchten wir behilflich sein.

Das muss nicht bedeuten, dass Sie nun Profi in all diesen Belangen werden müssen. Verschaffen Sie sich ein Zeitfenster, wenn Ihr Kind Sie etwas fragt und Sie gerade keine kindgerechte Antwort im Kopf haben. Seien Sie authentisch, indem Sie beispielsweise sagen: „Meine Eltern haben mich nicht gut aufgeklärt, aber ich will das besser machen.” Besorgen Sie sich Bücher, die für die jeweilige Altersgruppe passend sind und/oder werfen Sie einen Blick in unsere App.

Und weshalb schon so früh?

  • Weil Kinder sich sehr früh für Geschlechtsunterschiede interessieren. Dabei geht es nicht nur um Jungen oder Mädchen, sondern um die Wahrnehmung von vielfältigen Weiblichkeiten und Männlichkeiten. Mit dem Asterisk* oder Gendersternchen verwenden wir, auch in diesem Handbuch, eine geschlechtersensible Schreibweise, die auch Menschen, die sich dem Zweigeschlechtersystem nicht einordnen können oder wollen, sichtbar macht.
  • Weil Kinder wissen möchten, woher sie „kommen”.
  • Weil sie in Kindergarten und Schule sexualisierte Begriffe/Wörter aufschnappen und nicht einordnen können.
  • Weil sie in den Medien (von der Plakatwerbung über die TV-Werbung bis zu Pornos in digitalen Medien) sehr früh mit sexualisierten Inhalten konfrontiert werden und gerade Pornos nicht der erste Zugang zum Thema sein sollten.
  • Weil Wissen Kinder stärkt, wenn sie im Alltag Geschlechtervielfalt begegnen/wahrnehmen. Kinder akzeptieren Vielfalt/vielfältige Lebensweisen, wenn sie davon wissen, und das ist wichtig für ein gutes Miteinander in unserer Gesellschaft.
  • Weil gut aufgeklärte Kinder sich später als Jugendliche viel mehr Zeit mit dem ersten Mal Sex lassen, weil sie in etwa wissen, was sie erwartet, und sie dem Gruppendruck nicht so leicht nachgeben. Kinder werden befähigt und sind verantwortungsvoller im Umgang mit Liebe, Sexualität und Beziehungen.
  • Weil gut aufgeklärte Kinder besser vor sexuellen Übergriffen geschützt sind: Sie haben Namen für all ihre Körperteile (können somit früher artikulieren, wenn jemand sie z.B. am Genital gestreichelt hat) und wissen, wo Sexualität „hingehört” - nämlich zu großen Jugendlichen oder Erwachsenen, wenn das beide wollen. Und dass man das mit Kindern nicht machen darf.
  • Weil Sexualerziehung einer der wichtigsten Bausteine in der Vorbeugung von sexuellem Kindesmissbrauch ist. Täter*innen kommen zum überwiegenden Großteil aus dem nahen sozialen Umfeld der Kinder, ein Warnen vor „bösen Unbekannten” greift viel zu kurz.

Es ist im Übrigen völlig in Ordnung, wenn Kindern das Thema peinlich ist, wenn sie nicht gewöhnt sind, darüber zu sprechen. Es darf gekichert werden! Und es darf sich auch geekelt werden: Bestärken Sie Ihre Kinder in diesen Gefühlen, indem Sie ihnen deutlich mitteilen: „Das kann man sich als Kind noch nicht vorstellen, dass das vielleicht mal was Schönes ist - das darf auch niemand mit einem Kind machen!” So haben Sie - ohne das Kind zu ängstigen - die Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch in ein Aufklärungsgespräch eingeflochten.

Welche Rolle spielt die psychosexuelle Entwicklung dabei?

Grundsätzlich gilt: Jedes Kind hat sein eigenes Tempo. Manche Kinder interessieren sich schon eher für Themen, andere dafür etwas später. Wie mit anderen Themen im Leben auch. Wenn Sie Ihrem Kind zuhören und darauf achten, welche Interessen es gerade verfolgt, werden Sie feststellen, wann es wofür bereit ist. Mit Büchern oder anderen Kinderspiel-Materialien (beispielsweise Puppen mit Geschlechtsteilen oder Puzzle, die verschiedene Familienformen darstellen) können Sie Ihrem Kind die Themen fast nebenbei anbieten.

Dieses Handbuch gliedert sich nach drei Altersgruppen, diese sind ausgehend von den Standards für Sexualaufklärung in Europa der WHO entnommen: 4-6 Jahre, 7-9 Jahre und 10-12 Jahre. Die Übergänge sind fließend und nicht alle Lernschritte fallen in das genannte Alter.

Die folgende Tabelle zeigt, welche Entwicklungen und Interessensgebiete für welche Altersklassen in etwa zu erwarten sind und mit welcher Art der elterlichen Begleitung diese verbunden sind. Die Altersangaben sind ungefähre Angaben, kein Kind ist ein Normkind.

Alter
0-4 Jahre
  • Kinder sollten die konkrete Bezeichnung der Körperteile, insbesondere der Geschlechtsorgane, kennen. Hierbei ist es wichtig, auch frühzeitig Fachbegriffe zu verwenden. In der deutschen Sprache sind Beispiele hierfür „Penis“ und „Vulva“.
  • Kinder kennen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, körperlich sowie sozial.
  • Kinder können verschiedene Gefühle wahrnehmen sowie ausdrücken und Wünsche und Bedürfnisse äußern.
  • Sie lernen die erste eigene Körperhygiene kennen und wenden sie an.
  • Sie entwickeln eine positive Haltung zum eigenen Körper und können eigene Wünsche und Grenzen ausdrücken, wie beispielsweise bei Körpererkundungsspielen.
  • Sie entwickeln erste Ideen und Vorstellungen zu Familienmodellen und unterschiedlichen Verwandtschaftsgraden.
4-6 Jahre
  • Kinder lernen körperliche Altersunterschiede kennen: Körper von Kindern sehen anders aus als die von Erwachsenen (beispielsweise Behaarung, Körperformen, Brüste).
  • Sie erhalten konkretes Wissen über Fruchtbarkeit und Fortpflanzung.
  • Sie erhalten Wissen über Schwangerschaft, Geburt und Babys und das Lebensende.
  • Sie entwickeln ihre eigene Geschlechtsidentität.
  • Sie können Emotionen wahrnehmen und unterscheiden (beispielsweise Eifersucht, Wut, Angst, Enttäuschungen).
  • Sie erhalten Wissen darüber, dass nicht alle Menschen „nett“ zu Kindern sind und wann sie sich Unterstützung bei einer Vertrauensperson holen sollten/können.
  • Für sie müssen Möglichkeiten für Privatsphäre und Schamentwicklung geschaffen werden.
7-9 Jahre
  • Das Körperwissen wird spezifischer: Menstruation, Ejakulation, individuelle Unterschiede bei der längerfristigen Entwicklung. Biologische und soziale Unterschiede zwischen Mann und Frau, sowie Wissen über Geschlechtervielfalt.
  • Sie erhalten Basiswissen über sexuell übertragbare Infektionen und einen groben Überblick über Schwangerschaftsverhütung.
  • Sie haben Kenntnisse über unterschiedliche Beziehungen in Bezug auf Liebe, Freundschaft usw. Sie können soziale Kontakte herstellen und Freundschaften schließen, dabei haben sie Respekt vor anderen.
  • Es erfolgt eine weitere Festigung von und Auseinandersetzung mit Gefühlen.
  • Scham und Privatheit spielen eine zunehmend wichtige Rolle.
  • Die Kinderrechte sollten den Kindern bekannt sein.
10-12 Jahre
  • Kinder setzen sich mit Körperwissen, Körperbildern und Körpermodifikationen (Genitalverstümmelung bei Mädchen, Beschneidung bei Jungen, geschlechtsveränderte Maßnahmen bei intergeschlechtlichen Kindern, Essstörungen, Tattoos/Piercings) auseinander. Die Beschreibung der eigenen Körpereinstellung ist durch Gesundheit, Selbstbild und Verhalten beeinflusst.
  • Sie haben Wissen über Masturbation.
  • Sie erweitern die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Gefühlen, wie beispielsweise Eifersucht.
  • Sie kennen die Auswirkungen einer Schwangerschaft (Elternschaft, Beziehungsveränderungen). Sie setzen sich mit der Frage nach Schwangerschaft in gleichgeschlechtlichen Beziehungen und dem Thema Unfruchtbarkeit auseinander.
  • Sie erleben Dating/Verabredungen/Flirten.
  • Wichtig ist das Vorhandensein von Medienkompetenz, das heißt, der Umgang mit dem Internet und den möglichen Gefahren (beispielsweise muss der Umgang mit Fotos/Chats verfestigt und vertieft werden). Sie verfügen über ein grundlegendes Wissen über Sexualität/Internet/Körperbilder in den Medien.
  • Es erfolgt die weiterführende Auseinandersetzung und Konkretisierung des Themas sexuell übertragbare Infektionen.